Foto: Lindeka Qampi / Iliso Labantu, South Africa

Das Auge des Volkes

 

von Meinrad Heck (April 2011)

 

Sie fotografieren das Leben in südafrikanischen Townships um Kapstadt. Ein Leben, das kaum ein Außenstehender kennt, weil sich niemand in diese No-go-Areas wagt. Für 15 junge Fotografinnen und Fotografen ist das kein Wagnis. Sie leben dort. Die Township-Reporter nennen sich "Iliso Labantu". Sie sind "das Auge des Volkes" – ausgerüstet mit ein paar gespendeten Digitalkameras und einer Wäscheleine für die Bilder ihrer Ausstellung.

 

Der strenge Südostwind treibt ein paar Regenwolken über den Cape Flats vor die Morgensonne. Lindeka reibt sich die Augen. "Siehst du, da, im Schatten?" - "Ich seh´s." – "Die Funken unter den Autos." Schrottreife Kisten, die an diesem frühen Morgen im Süden Khayelitshas über die Straßen rumpeln, durch Schlaglöcher oder über ein paar Strippen auf dem Boden, und dann diese Funken unter dem Blech. "Strom", sagt Lindeka, "sie zapfen Strom ab von den Häusern da drüben, mit geklauten Kabeln, und legen ihn auf die andere Straßenseite zu den Bretterbuden."

 

Blankes Kupfer im Staub, 220 Volt, ein Kabel neben dem anderen, die Isolierung von den Autoreifen weggescheuert. "Das müssten wir fotografieren", meint die junge Frau. Nur wie? Vielleicht die Kamera ein paar Zentimeter neben das Kabel auf den Boden? Dann die Nahaufnahme. Warten, bis ein Auto kommt, hoffen auf die Funken, abdrücken? Aber die nackten Kabel und so nah am Strom? Womöglich doch keine gute Idee.

 

Willkommen in der größten Township Südafrikas nach Soweto. 25 Kilometer hinter dem Tafelberg von Kapstadt. Eingezwängt zwischen einer Autobahn und den Dünen des Indischen Ozeans. Freiwillige oder unfreiwillige Heimat für vielleicht zwei Millionen Menschen. Keiner weiß das so genau. Eine freiwillige Heimat für die, die hofften, einen Job in Kapstadt zu ergattern und erfolgreich waren. Unfreiwillig für die anderen, die ihren Angehörigen in die Stadt gefolgt waren, damit die Familie zusammenbleiben kann. Wer hier Arbeit hat, muss statistisch gesehen mit Kind und Kegel bis zu zwanzig Menschen ernähren.

 

Wie lebst Du? Wo lebst du? Die Antworten kommen mit der Kamera

 

Khayelitsha heißt in der Sprache der hier lebenden Xhosa so viel wie "neue Heimat". Ein paar Kilometer weiter liegen Gugulethu, Langa oder Nyanga, genannt "unser Stolz" oder "die Sonne" und "der Mond". Wenigstens in einer der elf Landessprachen lässt sich auf Xhosa diesen Vorstädten etwas Gutes abgewinnen. Die Statistik sagt Verheerendes. Die Kriminalität ist exorbitant, Gewalt und Alkohol machen das Leben nach Einbruch der Dunkelheit gefährlich, die Rate an Aidserkrankten liegt angeblich bei 25 Prozent, wenn nicht höher, und mindestens jeder Zweite hat keinen Job.

 

Wie lebst du, wo lebst du? Mit solchen Fragen hatte es begonnen. Sue Johnson hatte vor acht Jahren eine Auszeit von New York genommen und war zu Freunden ans Kap gezogen. Dort hatte die US-Fotografin ihrer Haushälterin Löcher in den Bauch gefragt. Montolo kam aus dieser "neuen Heimat". Die Antworten fanden sich mit der Kamera. In einem Meer von Wellblechbuden, zwischen Holzbaracken und Schwärmen von Menschen, vor dampfenden Därmen und gegrillten Schafsköpfen beim Fleischverkäufer in der brütenden Sonne oder in den Shebeens, den Kneipen der illegalen Squattercamps, die zu betreten kaum ein weißer Südafrikaner je wagen würde.

 

Dort brauen sie Umkhomboti, das traditionelle Bier, das aussieht wie rosafarbene geschäumte Milch und das für westliche Gaumen außerordentlich gewöhnungsbedürftig ist. Das Gebräu kreist in einem ausgewaschenen Farbtopf, aus dem jeder trinkt, auch der Gast aus Übersee, wenn sich denn ein solcher in einen Shebeen verirrt. Ausreden sind dann zwecklos. "Ich trink keinen Alkohol, wenn ich Auto fahre." Aber hallo, sagt einer, "du sollst ja auch nicht beim Autofahren trinken, sondern jetzt". Logisch, oder?

 

Township und luxuriöses Appartement

 

An solchen Orten leben Menschen wie Kathlene im Geist von Ubuntu. Das Wort ist kaum zu übersetzen. Ubuntu ist eine Weisheit, ein Lebensgefühl, vielleicht die letzte Hoffnung in einer Welt ohne materielle Perspektive. Ubuntu ist ein guter Geist und heißt so viel wie "I am because we are". Von ihren Freunden wird Kathlene "Kathy" genannt. Sie ist eine von diesen vielen tausend Frauen, die als Dienstmädchen Tag für Tag aus den Townships der Cape Flats hinter dem Tafelberg in eine der vornehmen Villen oder Appartements im Zentrum Kapstadts strömen.

 

Zu Fuß, mit einem Vorortzug oder einem Sammeltaxi für umgerechnet 50 Cent am Tag, bei einem Monatslohn von 150 Euro. Damit ist ein Zehntel des Einkommens schon mal weg. Kathy ist Housekeeper, was so viel heißt wie Mädchen für alles. Sie putzt, wäscht und kocht für eine viel beschäftigte Geschäftsfrau. "Ma´am" lebt in einem luxuriösen Appartement mit Blick auf den Tafelberg und den Ozean. Ma´am hat nie eine Township von innen gesehen. Sie ahnt vielleicht, dass die Ärmsten der Armen dort an den Knochen nagen.

 

Kathy hatte sich eines Tages ein Herz gefasst und gefragt, was sie schon immer fragen wollte. Es ging um ihre Arbeit in der Küche. Eine schöne Küche. Oft, wenn Kathlene mit einem feinen Tuch ein paar Fusseln vom schwarzen Lack gewischt hatte und zufällig einen der vielen Knöpfe berührt hatte, begann es leise zu summen. Dann waren wie von Geisterhand gesteuert versteckte Armaturen aus dem Herd gefahren und gedämpftes Licht wurde eingeschaltet. Das alles schien irgendwie aus einer anderen Welt, und Kathy hatte sich fest vorgenommen, dieser Welt eines Tages auf den Grund zu gehen.

 

"Ma´am?"

"Kathy?"

"Ich möchte Sie etwas fragen."

"Was denn?"

"Ihre Küche, Ma´am, was kostet so eine Küche?"

"Ach, Kathy", habe die Frau mit einem tiefen Seufzer geantwortet. "Ich glaube, das willst du lieber nicht wissen."

"Doch Ma´am."

"Ich weiß es nicht mehr genau. Ich glaube, sie kostete ungefähr 100 000 Rand" (umgerechnet 10 000 Euro, die Redaktion).

"100 000 Rand, Ma´am? Nur für eine Küche?"

"Ja, Kathy."

 

Warum, fragt sich Kathy, warum können Menschen so viel Geld für eine Küche ausgeben. Sie verdient 1500 Rand im ganzen Monat. Warum findet sie in den Mülleimern dieser schönen Häuser weggeworfenes Brot oder Äpfel? "Wir werfen kein Brot und keine Äpfel weg, wir essen sie."

 

In kaum einem Land der Welt geht die Schere zwischen bitter Armen und unvorstellbar Reichen auf engstem Raum so weit auseinander wie in Südafrika. Wie erzählt man solche Geschichten? Und vor allem, wer erzählt sie am besten? So entstand Iliso Labantu. Sue Johnson war eines Tages auf den Gedanken gekommen, ihre eigenen Fotos auszustellen, nämlich genau dort, wo sie entstanden waren. Weil zwischen Bretterbuden kaum eine Galerie zu erwarten war, kam der Durchbruch mit einer Wäscheleine. Statt T-Shirts flatterten plötzlich Fotos im Wind.

 

48 Stunden lang auf Fotoreportage

 

Eine Ausstellung dieser Art hatte es in einer Township noch nie gegeben. Sue tat sich mit ihrem britisch-südafrikanischen und ähnlich enthusiastischen Reporterkollegen Alistair Berg zusammen. Über Ebay organisierten sie ein Dutzend billiger Digitalkameras, begeisterten zuerst einige wenige und später immer mehr Jugendliche für die Fotografie. Das Auge des Volkes begann zu sehen. Es ging anfangs um Brillanz, um Schärfe, Farben, Kontrast. Die Basics jedes Fotolehrgangs. Dann kamen die Botschaften, der tiefere Sinn, die Stories, der Journalismus oder die Flash Weekends.

 

Wie der Blitz fährt an einem solchen Wochenende die Truppe 48 Stunden lang durch die Townships. Immer an einem anderen Ort. Irgendwo gibt es einen Gemeindesaal für die Sandwiches mit der heiß geliebten Erdnussbutter, und irgendwo gibt es ein paar Steckdosen für die Computer. Die Batterien der Kameras wollen aufgeladen werden – und die eigenen.

 

Ein paar ortskundige Führer sind dabei, damit sich keiner zwischen den Shaks, den Wellblechhütten, verirrt. Worauf sie achten müssen, dass es aus Sicherheitsgründen auch Alarmsignale geben kann, wissen die Jungs und Mädchen hinter der Kamera selbst am besten. Kinder wären ein solches Alarmzeichen. Wenn die Trauben von tosenden Kids, die alle fotografiert werden wollen, nicht auftauchen würden, dann wäre etwas faul. Dann hätten die Mütter ihre Youngsters wahrscheinlich ins Haus gepfiffen, weil irgendeine kriminelle Gang unterwegs ist und die Straßen unsicher macht. Dann wäre es an der Zeit zu gehen.

 

Phiwokuhle steigt mit ihrer Kamera aufs Dach. Die 19-Jährige gehört wie Lindeka Qampi, der es die blank gescheuerten Stromkabel angetan hatten, zum harten Kern der Gruppe. Auf einem dieser vielen hundert Wellblechdächer fesselt ein schwarzes Ding ihre Aufmerksamkeit, das anderen Augen vielleicht verborgen geblieben wäre. Die Dächer sind nicht sehr stabil, mit ein paar rostigen Nägeln festgeklopft. Nicht genug gegen diesen strammen Südostwind. Meist helfen ein paar alte Reifen als Ballast, und dieses schwarze Ding – Phiwokuhle kann es kaum fassen – ist ein alter Fernsehapparat. Das ist nicht normal, sagt sie. So was werde ausgeschlachtet, Kabel für Kabel und Stecker für Stecker auseinandergenommen, verscherbelt oder geklaut – aber nicht aufs Dach gestellt.

Lindeka Qampi, ihr Kollege Mandla und Piwokuhle.                                                                                     Foto: Meinrad Heck


Phiwokuhle macht Karriere

 

Phiwokuhle hat so etwas wie eine kleine Karriere gemacht. Während der Fußballweltmeisterschaft 2010 hatte die Fifa das Auge des Volkes in seine Stadien sehen lassen. Phiwokuhle hat fotografiert, und sie wollte Radioreporterin spielen. "Du hörst dich verdammt professionell an", hatten ihr die Interviewpartner damals zugeflüstert, und zum ersten Mal, sagt Phiwokuhle, "hab ich mich gefühlt wie eine richtige Journalistin."

 

Freunde von ihr wie Mandla haben unterdessen Gelegenheitsjobs bei den größten südafrikanischen Zeitungen ergattert. Lindeka flog für eine Fotoausstellung 2010 zum Afrika-Festival Würzburg. "Ihr habt mich", sagt sie, "behandelt wie eine Königin." Ein bisschen Geld war hereingekommen durch den Verkauf großformatiger Fotos der Ausstellung.

 

In den Townships lässt sich kaum Geld verdienen. Kein Mensch kauft die Fotos, die an der Wäscheleine flattern. Oder die, die laminiert werden und an Bretterwände der Holzhütten genagelt werden. Das wäre auch nicht der Sinn der Sache. Diese Ausstellungen, formuliert Alistair Berg, britischer Fotojournalist und Gründungsmitglied der Gruppe, haben eine soziale Funktion. Fotos erzählen nicht nur eine Story. Fotos erzählen von Menschen und ihren Schicksalen. Ihnen zu begegnen ist eine Frage des Respekts. Iliso Labantu dürfte heute über eine der größten Datenbanken an professionellen Fotos aus südafrikanischen Townships verfügen. Längst wäre diese Geschichte Stoff für ein opulentes Fotobuch, denn die jungen Fotografinnen und FotografInnen von Iliso Labantu haben bereits Geschichte geschrieben.