Ingolstadt GmbH II

 

Wie kam die Luxusmauer vor Lehmanns Wohnungen?

 

Der ehemalige Ingolstädter OB, Alfred Lehmann, ist wegen Korruption vorbestraft, weil er über Bauträger Wohnungen von städtischen Tochterfirmen deutlich zu günstig erwarb. Nach Lehmanns Kauf der Studentenwohnungen ließ die städtische Tochter IFG, die er kontrollieren sollte, eine ungewöhnlich teure Lärmschutzwand vor die Wohnungen bauen, obwohl ein Gutachten der eigenen Verwaltung sich dagegen aussprach. Warum stimmten die Stadträte der weitgehend nutzlosen Wand zu?

 

Von Vinzenz Neumaier und Thomas Schuler (ProRecherche.org, 28.01.2020)

 

Wenn es um Lärmschutz geht, hebt Annemarie Schwankl ihre Stimme. Sie spricht lauter, als versuche sie den Verkehr, der vor ihrer Tür vorbeirauscht, zu übertönen. Seit knapp 38 Jahren betreiben sie und ihre Familie das ART Hotel Pfeffermühle in der Manchinger Straße. Und seit Jahrzehnten bemüht sich Schwankl um Lärmschutz für ihr Hotel - bislang vergeblich.

 

Die Anwohner der Manchinger Straße sind eigentlich an Lärm gewöhnt. Ihre Straße dient als Zubringer zur Autobahn. Etwa 28.000 Fahrzeuge rollen täglich zwischen Saturn Arena und Gewerbegebiet hin und her. Annemarie Schwankl macht das wütend.

 

Der Krach gefährde ihr Geschäft, sagt sie. Gäste des ART Hotels verlangen oft ein Zimmer zur Hofseite und – wenn sie das nicht erhalten – checken sie trotz Reservierung wieder aus. Annemarie Schwankl (Foto) will das nicht hinnehmen.

 

Sie schreibt Klagebriefe an Stadträte, das Umweltamt, die Beschwerdestelle der Stadt, die Polizei – auch an den Oberbürgermeister persönlich. Eine zufriedenstellende Antwort habe sie bisher nicht erhalten, meint Schwankl. Behörden verweisen laut Schwankl auf Richtlinien der EU, wegen derer ihnen die Hände gebunden seien.

 

 

Bürger zweier Klassen?

 

„Wir sind doch auch Bürger dieser Stadt. Warum misst die Stadt mit zweierlei Maß”, sagt Schwankl. Ihre Frage zielt auf eine Schallschutzwand ab. Diese steht auf der gegenüberliegenden Seite der Manchinger Straße etwa 400 Meter stadteinwärts. Diese Wand ist mehr als zwei Meter hoch, etwa 200 Meter lang und steht in zwei Reihen versetzt. Sie ist mit knapp 600.000 Euro mehr als doppelt so teuer wie eine gewöhnliche Schallschutzmauer, somit sozusagen die Luxusvariante einer Lärmschutzwand. Die kommunale Tochtergesellschaft Industrie- und Fördergesellschaft IFG, die die Wand 2013 erbauen ließ, beschrieb diese den Stadträten, als handle es sich dabei um ein städtebauliches Schmuckstück. Leuchtelemente aus Acrylglas und Pflaster aus Granitsteinen akzentuieren Durchgänge in der Wand. Die Schallschutzmauer soll das „Bild der südöstlichen Stadteinfahrt nachhaltig positiv prägen“, heißt es.

 

Unmittelbar hinter dieser Schallschutzwand liegen einige der wohl bekanntesten Wohnungen Ingolstadts. Der frühere Oberbürgermeister Alfred Lehmann erwarb hier 2011 zwölf Studentenappartements vom befreundeten Bauträger S.. Lehmann zahlte für die Wohnungen ungefähr 360.000 Euro zu wenig. Wegen dieses korrupten Geschäfts verurteilte ihn das Landgericht Ingolstadt wegen Vorteilsannahme. Für ein anderes Delikt erhielt Lehmann zudem eine Verurteilung wegen Bestechlichkeit, ins Gefängnis musste er jedoch nicht. Seine zweijährige Freiheitsstrafe setzte das Gericht zur Bewährung aus.

 

Werte, die verbinden: 62 Wohnungen

 

März 2019. Der Prozess gegen Alfred Lehmann hat gerade begonnen. Am ersten Tag der Beweisaufnahme fahren wir zu seinen Wohnungen an der Manchinger Straße und wundern uns. Ist es nicht bemerkenswert, dass ausgerechnet hier vor den insgesamt 62 Wohnungen von Lehmann und dem Bauträger-Ehepaar S. eine zum Großteil aus öffentlichen Geldern finanzierte, teure Lärmschutzwand entstand? Eine Wand, die Lehmann und dem Bauträger S. offenbar persönlich nutzt. Eine stark befahrene Straße, wie die Manchinger Straße, mindert den Wert der Immobilie. Eine Lärmschutzmauer stellt daher wohl eine Verbesserung dar. Sie kann helfen, den Preis der Wohnungen zu steigern. Doch in den folgenden Monaten war der Bau der Mauer im Prozess nie Thema.

“Völlig unstrittig”

 

Wie kam diese Mauer vor Lehmanns Wohnungen? Die städtische Tochtergesellschaft IFG ließ die Mauer 2013 errichten. Der Stadtrat und IFG Verwaltungsrat hatten das Projekt zuvor genehmigt. „Es leuchtete mir damals völlig ein, dass da eine Lärmschutzwand hin muss“, sagt Stadt- und IFG-Verwaltungsrat Achim Werner (Foto), wenn man den Fraktionsvorsitzenden der SPD heute auf den Vorgang anspricht. Für Manfred Schuhmann (SPD) war die Notwendigkeit der Mauer ebenfalls „völlig unstrittig“. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Petra Kleine, teilt mit, ihr sei wichtig gewesen, dass wegen der Mauer keine Bäume gefällt werden mussten. Die Wand an sich habe sie befürwortet.

 

Die Ansichten der Räte lassen sich nachvollziehen. Ein Blick in die Unterlagen, die dem Stadtrat vor der Abstimmung vorlagen, genügt. „An der Manchinger Straße sind Schallschutzmaßnahmen erforderlich“, steht in der offiziellen Sitzungsvorlage der IFG. Aber stimmt das? Sorgt die Mauer an der Manchinger Straße wirklich dafür, dass die Anwohner in den Studentenwohnungen und auf dem Neubaugebiet dahinter in Ruhe leben können? Das erscheint aus vielen Gründen fraglich.

 

Die Stadt Ingolstadt hatte auf dem ehemaligen Pioniergelände bereits zwei Jahre vor dem Bau der Mauer im April 2011 für Lärmschutz gesorgt, indem sie sogenannten Flüsterasphalt auf der Manchinger Straße aufbringen ließ. Kosten damals: knapp 180.000 Euro. Der Eigenanteil der Stadt belief sich dabei auf etwa 25.000 Euro, den Rest finanzierte sie durch Zuschüsse.

 

Die Wirkung des frisch verlegten Asphalts galt es zu prüfen. Die städtische Tochtergesellschaft IFG beauftragte dazu einen Sachverständigen für Verkehrslärmschutz des Ingenieurbüros em plan. Der Sachverständige aus dem Landkreis Augsburg war mit dem Gelände der ehemaligen Pionierkaserne vertraut. Er hatte das Areal bereits im Jahr 2009 im Auftrag der Stadt Ingolstadt schon einmal schalltechnisch untersucht.

 

Der Auftrag der IFG lautete 2011 anders. Der Sachverständige sollte die Wirksamkeit des Flüsterasphalts mit der Effektivität einer geplanten 3,5 Meter hohen Schallschutzmauer vergleichen. Die IFG wollte wissen, welche der beiden Maßnahmen besser vor dem Verkehrslärm der Manchinger Straße schützt. Im Juli 2011 lieferte der Gutachter Ergebnisse. Er hatte die Lärmpegel an den Bestandsgebäuden, in denen die Studentenwohnungen untergebracht sind, sowie an den dahinter liegenden Neubauten berechnet.

 

Der Flüsterasphalt reicht

 

Eine 3,5 Meter hohe Wand schützt in der Summe schlechter vor Lärm als der Flüsterasphalt. Der lärmarme Straßenbelag führe „zu etwa gleich niedrigen, bzw. in den oberen Geschossen und den entfernteren Bebauungen zu deutlich niedrigeren Pegeln als die Wandvariante“, heißt es im Gutachten. Einzig in den Erdgeschossen der ehemaligen Soldatenunterkünfte entfalte die Mauer eine etwas höhere Wirksamkeit.

Damit nicht genug. Der Flüsterasphalt sei für die vorhandene und geplante Wohnbebauung insgesamt als „positiv zu bewerten“. Die Wand bringe hingegen nahezu keinen Nutzen. Diese Ergebnisse lassen zweifeln, dass die Lärmschutzwand vor Lehmanns Wohnungen wirklich „erforderlich“ ist. Die gesetzlichen Grenzwerte der Lärmvorsorge werden laut Gutachten jedenfalls eingehalten, an manchen Stellen sogar deutlich unterschritten. Der Flüsterasphalt reicht aus, um den gesetzlichen Ansprüchen für Lärmschutz Genüge zu tun.

 

„Damit fügt sich die Lärmsituation in den Rahmen dessen, was üblicherweise in der städtebaulichen Abwägung bewältigt werden kann“, schreibt der Gutachter wörtlich. „Ergänzende Schallschutzmaßnahmen“ wie eine Schallschutzwand seien „nicht erforderlich“. In einem weiteren Gutachten aus dem Juni 2011 war der Sachverständige von em plan bereits zu einem ähnlichen Schluss gekommen: Für das Neubaugebiet auf der Pionierkaserne sei die Lärmschutzwand eigentlich nicht notwendig.

 

Für Auftraggeber von Gutachten sind solche Nachrichten normalerweise erfreulich. Die IFG hätte sich Arbeit und Kosten sparen können. Innerhalb der Stadtverwaltung fielen die Reaktionen allerdings anders aus. Die Leiterin des Stadtplanungsamts, Ulrike Brand, schien dem Gutachten, das sich gegen eine Wand aussprach, nicht zu trauen. Ein Mitarbeiter des städtischen Umweltamtes sollte es daher vor Ort mit eigenen Messungen überprüfen.

 

Ein ungewöhnlicher Vorgang. Sollten so Gründe für eine Schallschutzwand gefunden werden? Doch die Überprüfung bestätigte das Gutachten nicht nur, die gemessenen Werte lagen sogar niedriger, als die vom Gutachter berechneten Lärmpegel. Nun stand umso mehr fest: Eine Lärmschutzwand war offenbar nicht notwendig.

 

Die Chefetage wünscht “wohlwollende Stellungnahme”

 

Dann schaltete sich die Chefetage der Stadtverwaltung ein. Am 25. Juli 2011, also wenige Wochen nachdem Lehmann die Wohnungen gekauft hatte, schrieb der damalige Umweltreferent Wolfgang Scheuer eine Mail an seinen Amtsleiter. Das Lärmgutachten des Umweltamts sei in der Referentenbesprechung Thema gewesen. Die Referentenbesprechung leitet normalerweise der jeweilige Oberbürgermeister, zum damaligen Zeitpunkt also Alfred Lehmann. Die Stadt stehe, so schreibt Scheuer, bei den Bauherren auf dem ehemaligen Pionierkasernengelände im Wort. Das Umweltamt solle den Sachverhalt noch einmal überprüfen und „soweit möglich“ eine „wohlwollende Stellungnahme“ abliefern.

 

Ein Wort, das alles ändert

 

Dieser Wunsch ging in Erfüllung. In der offiziellen Stellungnahme des Umweltamts zum Bebauungsplan heißt es unter dem Punkt Verkehrslärm: Eine Lärmschutzwand sei für die Studentenwohnungen in den Bestandsgebäuden „vorgesehen“. Wie aus dieser Formulierung später „erforderlich“ wurde, bleibt unklar. Es ist ein kleiner, aber entscheidender Unterschied, der wohl dazu führte, dass die Stadt- und Verwaltungsräte für den Bau der Mauer stimmten. Die Behauptung, sie sei erforderlich, ließ keinen Zweifel am Sinn der Schallschutzwand aufkommen. Es ist dieses eine Wort, das die Wand bis heute rechtfertigen soll.

 

Ein Gutachten, von dem niemand etwas erfährt

 

Die Stadträte erfuhren offenbar nichts vom Gutachten aus dem Jahr 2011. Stattdessen bekamen sie ein Gutachten aus dem Juli 2012 vorgesetzt. In diesem Gutachten habe das Büro em plan alle „Stellungnahmen“ und „vorliegenden Untersuchungen“ zum Themenbereich Schallschutz zusammengefasst. Eigenartig, liest man das Gutachten, fällt auf: Die Ergebnisse aus dem Juli 2011 tauchen nicht auf.

 

Alfred Lehmann verantwortete 2013 den Antrag zur Genehmigung der Lärmschutzwand im Stadtrat, wie die Beschlussvorlage ausweist. Er beantragte, die Stadträte mögen der Sitzungsvorlage der IFG zustimmen. Damals stand er zugleich dem Verwaltungsrat der IFG vor. All das weckt den Verdacht, dass öffentliche Stellen Geld ausgaben und damit die Wohnungen Lehmanns attraktiver machten. Ob dies auf direkte Anweisung des ehemaligen Oberbürgermeisters geschah, ist unklar. Es gilt die Unschuldsvermutung. Fragen von ProRecherche ließ Lehmann unbeantwortet. Auch Bauunternehmer S. reagierte nicht auf übersandte Fragen.

 

Durchgänge verringern Wirkung

 

Der Bau der Lärmschutzwand weist indes noch mehr Ungereimtheiten auf. Der Gutachter hatte im Juli 2011 die Wirksamkeit einer 3,5 Meter hohen Mauer berechnet. Die IFG ließ aber eine niedrigere Mauer errichten. Die gebaute Wand misst größtenteils nur 2,6 Meter. Diese kleinere Wand schützt aus diesem Grund wesentlich schlechter vor Krach. Die errichtete Mauer verfügt darüber hinaus über Durchgänge für Fußgänger. Der Schall dringt an diesen Lücken durch und schmälert die Wirksamkeit der Wand noch weiter. Der Gutachter hatte in seinen Betrachtungen im Juli 2011 mit einer durchgängigen Mauer gerechnet.

 

Die Lärmschutzwand schirmt die Studentenwohnungen in den dritten Obergeschossen nicht gegen Lärm ab. Auch in vielen Wohnungen der zweiten Obergeschosse geht die Wirkung der Wand gegen Null. Die Lärmschutzwand schützt viele Anwohner also gar nicht vor Lärm. Die IFG ließ trotzdem bauen.

 

Die Stadt bleibt dabei: Die Mauer sei sinnvoll

 

Wie sieht die Stadt Ingolstadt den Vorgang heute? Sie bleibt dabei. Die Mauer vor Alfred Lehmanns Wohnungen sei sinnvoll. Wieso? Auf Anfrage von ProRecherche verweist die Stadt auf ein Lärmgutachten aus dem November 2009. In diesem habe der Sachverständige von em plan festgestellt, dass mit einer 2,5 Meter hohen Lärmschutzanlage an der Grundstücksgrenze alle Anforderungen der Lärmvorsorge eingehalten werden. Diese Antwort mag verwundern.

 

Als der Sachverständige sein Gutachten im November 2009 verfasste, war die Lärmsituation anders. Es lag kein Flüsterasphalt auf der Manchinger Straße, es war schlicht lauter. Eine Wand ergab damals mehr Sinn. Diese Situation mit der Untersuchung aus dem Juli 2011 zu vergleichen, erscheint wenig sinnvoll.

 

Das Gutachten aus dem Jahr 2009 ist zudem nicht so eindeutig, wie es die Stadt heute aussehen lässt. „Überschreitungen des Nacht-Orientierungswerts“ auf den Gebäuden der ehemaligen Pionierkaserne erscheinen „in der gegebenen vorbelasteten Situation als abwägbar“, heißt es in dem Gutachten aus dem Jahr 2009. Diese Passage verschweigt die Stadt heute allerdings.

 

Die Stadt führt auf Anfrage indes weitere Gründe an, wieso die Mauer gebaut werden musste. Ihre Sicht: Die dauerhafte Lärmminderung des Flüsterasphalts hätte nicht gewährleistet werden können, deshalb hätte man eine Wand bauen müssen. Der Flüsterasphalt sei „in den Lärmschutzbetrachtungen des Gutachters zum Neubaugebiet 2011 nicht zu berücksichtigen“ gewesen, heißt es. In diesem Punkt hat die Stadt Recht. Flüsterasphalt nutzt sich auf die Dauer ab. Wie lange er seine lärmmindernde Wirkung behält, ist nicht geklärt. Die gebaute Lärmschutzmauer bleibt trotzdem größtenteils wirkungslos.

 

Die städtische Tochterfirma IFG hatte für die Mauer bereits vor Baubeginn Geld kassiert. Die Käufer der Grundstücke und der Bestandsgebäude zahlten einen Zuschlag von etwa 17 Euro pro Quadratmeter. Diese Einnahmen sollten für aktiven Lärmschutz, sprich eine Mauer, dienen. Insgesamt kamen so 236.000 Euro zusammen. Die Wand kostete aber etwa 600.000 Euro.

 

Für den Rest kam der Steuerzahler auf.

 

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In Teil zwei (IngolstadtGmbH III) präsentiert ProRecherche demnächst einen weiteren Beleg dafür, dass die Mauer nahezu wirkungslos ist. ProRecherche beschreibt, warum rechtliche Grundlagen für den Mauerbau fragwürdig sind. ProRecherche erläutert die fragwürdige Rolle des kommunalen Tochterunternehmens IFG und den Interessenskonflikt von Alfred Lehmann, außerdem die seltsame Rolle und Argumentation der Regierung von Oberbayern bei der Bewilligung von Fördergeldern. Und ProRecherche sucht eine Antwort auf eine Frage, die vor Gericht offen blieb.